Buchrezension — 30.11.2023

von Johanna Peimpolt aus LiLiT-Ausgabe Rezensionen 2023

schichtgedichte

Gintsberg schafft mit schichtgedichte eine vielstimmige Lyrik, in die sie auf leichtfüßige Art und Weise den Dialekt ihrer eigenen Heimat miteinfließen lässt. Die Sprachvariation ist es, die das Werk gleichzeitig heimatverliebt wie auch heimatkritisch macht, vor allem jedoch macht sie das Werk einzigartig.

Wenn „ein geruch sich ausbreitet / der eine / der lang vermisste“, dann findet so manche:r sich in Eva Maria Gintsbergs Lyrik wieder. Ein Werk der Vielsprachigkeit, Dialekt geschichtet auf Standardsprache, lyrische Antiheimatliteratur, die die Idylle eines Aufwachsens am Land einfängt und zugleich verborgene Abgründe und verlorene Zeiten enthüllt – das ist schichtgedichte.

Auf eine nostalgisch anmutende, atmosphärische Art und Weise beschreibt Gintsberg im ersten Teil des Werks das facettenreiche Leben und Erwachsenwerden abseits der Stadt. Unbeschwerte Zeiten, „die haare zerzaust“ – ein Exkurs in die Kindheit, eine Reise in die Heimat. „Dahoam“ hat viele Facetten, genauso wie Gintsbergs Sprache. In müheloser Art und Weise kombiniert sie die deutsche Standardsprache mit dem Dialekt des Tiroler Unterlands. Eine Kunst, die nicht nur einen einzigartigen Rhythmus hervorbringt, sondern sich auch im Sprachbild von schichtgedichte ausdrückt. Blasses Grau als Farbe für die Sprache der Familie, für die „längst vergessenen wörter“. Manchmal fließen Dialekt und Standardsprache ergänzend ineinander und manchmal wirken sie ambivalent, aber am Ende ist es wie bei einer mehrschichtigen Torte – die Geschmäcker ergeben ein feines Kompositum. Gintsberg spielt in ihrer Lyrik geschickt mit Lauten, Farben, Klängen und Artikulationsarten. Sie fängt das ländliche Milieu mit all seinen Aspekten gekonnt ein und bringt immer wieder einen Bruch in die kindlich-idealisiert dargestellte Welt.

„endlich hinter den horizont blicken / alles nur schein / das sein ist zuhause geblieben / was damma iatz? Bleiben und gehen / sprechen und schweigen / was man so tut / wenn man fremd ist / sich fremd fühlt //“

Irgendwann wird die rosarote Brille der Kindheit mit einem Wisch vom Gesicht geschlagen und man blickt als Erwachsener zurück auf die Vergangenheit, auf den „doifwegä“ (kleiner Waldweg), der zur „Schotterstraße“ geworden ist.

Auch im zweiten Teil des Werks, der mit „liebe“ betitelt ist, wird der thematische Rahmen fortgeführt, wobei der Fokus zunehmend auch auf das Sterben gerichtet wird. Das Sterben der Erinnerung, der Heimat, der Liebe, der Sprache. Die Reflexion über Sprache zieht sich hierbei über das gesamte Werk und es wird eine Metareferenz sichtbar. „Händeringend sitze ich da / warte auf die sprache / die uns verbindet […] verschoben in die letzten windungen des hirns“. Über das „Absperren“ des die Familie verbindenden Dialekts wird der Weg der Entfremdung von der Heimat sichtbar. Doch mit dem Gedanken an den Tod kommt der Wunsch nach vergangenen Zeiten.

Wer sich als Nichtdialektsprecher:in mit dem Tirolerischen abmüht, kann auf das Hörbuch-Feature zurückgreifen, da das Nachlesen bestimmter Wörter in der Fußzeile den Rhythmus von Gintsbergs Lyrik stören kann.

Antiheimatliterarische Tendenzen verlaufen durch das gesamte Werk und drücken sich durch die Kritik an der verklärten Euphemisierung ländlicher Idylle aus. Sexuelles Erwachen und Liebe münden in Nötigung und verfestigte Rollenbilder. Manchmal ist der Teufel als Engel getarnt. Und doch, die Stimmung und die Gerüche der Kindheit werden einen jeden und eine jede auf ihrem Weg durch das Leben begleiten. Eine Verbindung von schaurig Schönem und leichtfertig Glorifiziertem, das sich in den Sprachwegen der Kindheit niederschlägt.

Short News — 09.2022

Beim Internationalen Literaturfestival Sprachsalz 2022 die deutschen Texte von Kim Hye-Jjin und Julia Deck gelesen.

Leserstimme — 07.2022

Thomas Nennstiel, Filmregisseur Berlin

Herr Klein

„Es passiert mir nicht oft, dass ich Bücher von bewundernswerter Ingeniosität lese, die noch dazu durch erlesene Schönheit leuchten. Chapeau!“

Leserstimme — 01.2022

Herr Klein

„Ein Kaleidoskop, alles purzelt übereinander in wunderschönen, wunderlichen Bildern. Und alles kann gleich mehrmals gelesen werden. Was Sprache alles kann.“

Ursula Hochuli, St. Gallen/Schweiz, 10.01.2022

Buchrezension — 15.05.2021

Literatur Tirol, Rezension von Anna Spaemann

Herr Klein

Erst nach einer Reihe von Ausbildungen im Bereich, Schauspiel sowie Stimm- und Sprechbildung absolvierte die Autorin Eva Maria Gintsberg, geboren 1966 in Tirol, im Jahr 2018 das Studium der Germanistik. Gut Ding braucht manchmal eben Weile. Im Mai 2020 veröffentlicht sie ihr erstes Buch Die Reise im erlesenen Programm der edition himmel bei Limbus; ein Verlag gegründet von Grafikdesigner, Typograf und Autor Kurt Höretzeder und Grafikdesigner und Fotograf Thomas Schrott, die in diesem Vorhaben ihre Leidenschaft für das gedruckte Buch und die Lust am Lesen vereint sehen wollen. Mit Herr Klein veröffentlicht Eva Maria Gintsberg nun ihren ersten Roman in diesem Verlag, dessen Bücher sich auch durch die bibliophile Gestaltung auszeichnen.

Dass die Autorin im Hinblick auf den Literaturbetrieb erst eher spät zum Schreiben fand, ist vielleicht ein besonderer Glücksfall, denn Eva Maria Gintsberg vermittelt das Gefühl eines unbeeinflussten und individuellen Schreibstils, der im Gedächtnis bleibt.

Herr Klein oder die Herren Klein

Zwei Protagonisten, die den gleichen Namen tragen: So ganz klar ist es nicht, wer die beiden Personen genau sind – oder ob es sich überhaupt um zwei Protagonisten handelt. Selbst der Klapptext fragt: Geht es um ein Doppelleben? Ein geteiltes Leben? Teilen die Protagonisten doch nur den Namen? Ein Herr Klein klettert gerne auf Bäume und spuckt Kirschkerne, der andere sitzt im Rollstuhl und liebt Bücher. Wer träumt sich in welche Rolle? Dann taucht eine Ich-Erzählerin auf. Sie ist die Bibliothekarin und die Vorleserin des Bücher-affinen Herr Kleins. Die Ich-Erzählerin berichtet von Geschehnissen und Personen, von deren Skurrilitäten und Verbindungen zueinander. Doch viel schlauer als die Leser*innen ist sie auch nicht. Die Figuren treffen sich auf unterschiedlichen Ebenen, in unterschiedlichen Zeiten, hängen teils lose zusammen, teils überschneiden sie sich. Die Ich-Erzählerin scheint wie eine Verbündete der Leser*innen, die ebenso wie diese, versucht, die Geschehnisse und die Figuren einzuordnen. Das Buch präsentiert sich wie ein ganz eigener Mikrokosmos, in dem sich neben den zwei (oder dem einen?) Herr Klein(s) eine ganze Menge anderer, loser Figuren finden: unglücklich verliebte Trafikanten und Postboten, eine sich in Gärten aufhaltende Hedwig, ein ansehnlicher Herr im weißen Leinenanzug, verstorbene Eltern und Großeltern, die Nachbarin Luise, der Junge von nebenan namens Oskar und natürlich die Ich-Erzählerin, deren Rolle auch nicht klar einzuordnen ist. Die Figuren und ihre Konstellationen wirken so zufällig und skurril, dass man manchmal den Zusammenhang der Handlung sucht.

Anti-Chronologie, Anti-Linearität

Aber muss die Handlung unbedingt zusammenhängen, linear sein, immer auf den ersten Blick verständlich? Herr Klein sagt Nein: Lockere Handlungsstränge und die komischen Protagonist*innen müssen nicht verstanden werden – es reicht oft, einfach weiterzulesen. Der Schreibstil der Autorin fließt locker und perlend und zwingt die Leser*innnen teilweise schon fast in den Lesefluss, den Flow. Und es funktioniert: Das Buch ist nur schwer aus der Hand zu legen, möchte man doch trotzdem die Handlungsstränge zusammenführen können, die vielen feinen Wendungen auflösen, den Roman zusammenbauen. Trotz der Episodenhaftigkeit der Handlung, die sich auch im Aufbau des Romans anhand der vielen Absätzen und kurzen Kapiteln zeigt, gibt es nämlich nichtsdestotrotz subtile Zusammenhänge und kontinuierliche Motive, die sich durch den ganzen Roman ziehen und den aufmerksamen Leser*innen das Gefühl geben, ganz kurz vor der großen Erkenntnis zu stehen. Die Motive sind ebenso wie die Protagonist*innen leicht miteinander verwoben, es gibt hier immer wieder zu lesende Bücher, immer wieder zu lösende Kreuzworträtsel, eine immer wieder auftretende Großmutter. Es bleibt einem als Leser*in nichts anderes übrig, als abzuwarten und weiterzulesen, als zu hinterfragen und Verknüpfungsversuche zu machen.

Sprache ist Musik

Eva Maria Gintsberg verzaubert nicht nur durch die Kunst, eine Handlung so locker und gleichzeitig fesselnd zu konstruieren, sondern auch durch ihren leichten und harmonischen Schreibstil, der manchmal eher an Musik als an einen klassischen Roman erinnert. Sie selbst sagt, dass Sprache Musik ist und eine Körperlichkeit braucht und dass jeder Text Rhythmus, Ton und Klang hat. Dadurch kann beim Lesepublikum etwas hinterlassen werden. Genau das zeichnet auch Herr Klein aus. Die Autorin spielt mit Worten und schafft fantastische, märchenhafte Bilder, die hängen bleiben. Die kurzen Absätze zeichnen teilweise den Eindruck von einem Lied, womit der melodische Klang der verwendeten Sprache räsoniert. Es braucht keine wortgewaltige Tiefe, um bildgewaltige Eindrücke zu schaffen. Oft möchte man innehalten, um dem Klang der Sprache nachzuhängen, doch ebendiese trägt die Leser*innen beinahe fliegend durch den Roman – möchte man doch dringend die Handlungsfäden selbst verknüpfen. Das mag nicht unbedingt gelingen, doch genau das ist mitunter das Schöne an dem Buch: Die Autorin lässt am Ende viele Fragen offen und zeigt, dass nicht immer alles eindeutig interpretiert und ausgelegt werden muss. Es braucht nicht immer endgültige Antworten – viel wichtiger ist das (Hinter-)fragen an sich.

*Ein Beitrag im Rahmen von Uni-LiLiT: Literaturstudierende der Universität Innsbruck berichten über die Innsbrucker Literaturszene und darüber hinaus. Eine Kooperation von LiLiT – Literarisches Leben in Tirol und Innsbrucker Zeitungsarchiv.

Nähere Informationen zu Eva Maria Gintsberg im Literaturlexikon unter https://literaturtirol.at/lexikon/1664

17.5.2022, Quelle: LiLiT, https://literaturtirol.at/lilit/herr-klein-roman-17-5-2022

Buchrezension — 03.2021

Österreichisches Bibliothekswerk, Rezension von Fritz Popp

Herr Klein

[…] Charmant und verspielt, mit großer Sprachkunst erzählt, ein reizendes Beispiel phantastischer Literatur mit märchenhaften Zügen, das viel Raum zum imaginieren lässt. Vor allem für Leser*innen mit Faible für Skurrile. Und Liebhaber*innen besonders schön ausgestatteter Bücher.

Das Personal des Romans ist reichlich skurril und irrlichtert verführerisch durch den Text. Da ist einmal natürlich Herr Klein. Der tritt in zweifacher Form auf, als handle es sich um zwei denkbare Lebensentwürfe: Zum einen als ein im Rollstuhl sitzender Bücherfreak, wohlhabend und seltsam verschroben, im Besitz eines Goldfisches namens Friedrich, den er allerdings als seinen Hasen bezeichnet, was die Ich-Erzählerin, von ihm als Vorleserin und Bibliothekarin angestellt, doch etwas irritiert. Sie wird von den Stimmen ihrer Eltern und diversen Vorstellungen heimgesucht, die ihr das Leben etwas verkomplizieren. Dann gibt es aber zum andern noch einen zweiten Herrn Klein, der am liebsten auf Bäume klettert und Kirschkerne herunterspuckt. In ihn ist die Trafikantin verliebt, was er jedoch nicht zur Kenntnis nimmt. Er reist auf der Suche nach seiner Großmutter in den Süden und hat in Venedig und Umgebung reichlich surreale Begegnungen und Erlebnisse, die ihn nicht aus dem Staunen kommen lassen. In der Zwischenzeit versucht die Ich-Erzählerin, ihrem Herrn Klein und seinen Geheimnissen auf die Schliche zu kommen. 

Charmant und verspielt, mit großer Sprachkunst erzählt, ein reizendes Beispiel phantastischer Literatur mit märchenhaften Zügen, das viel Raum zum Imaginieren lässt. Vor allem für Leser*innen mit Faible fürs Skurrile. Und Liebhaber*innen besonders schön ausgestatteter Bücher.

Rezension von Fritz Popp, 2. März 2022

Wortspende — 01.2022

Herr Klein

„Ganz tolle, leichtfüßige, filigrane Prosa, die ihre Gedankentiefe lieber nur andeutet als ausspricht.“

Eleonore De Felip, Forschungsinstitut Brenner Archiv Innsbruck, 07.01.2022

Wortspende — 11.2021

Herr Klein

„Selten eine so skurrile, vergnügliche und berührende Geschichte gelesen. „Herr Klein“ wäre in der Runde von Hrabals Figuren in bester Gesellschaft.

Christian Thanhäuser, Edition Thanhäuser Oberösterreich, 30.11.21

Leserstimme — 10.2021

Herr Klein

Empfehlenswert für jeden, der Sprache liebt.

Ich war begeistert von der Sprache in diesem Buch. Oft habe ich nach einem Satz innegehalten und dem Klang der Worte nachgelauscht. Die überraschenden Wendungen in so manchen Nachsätzen haben mich schmunzeln oder gar hell auflachen lassen. Eva Maria Gintsberg hat einen wunderbaren Sinn für feinen Humor. Ich habe jede einzelne Seite genossen. Diesem Buch liegt ein ganz besonderer Zauber inne. Ich werde dieses Buch – entgegen meiner sonstigen Gewohnheit – wohl öfter lesen. Es hält sicher noch so manchen sprachlichen Leckerbissen für mich bereit, der mir beim ersten Lesen vielleicht entgangen ist. Wäre schade drum…

Silvia Haderer, Oberösterreich, 17.10.21

Buchrezension — 11.2021

lesen & schreiben Wien, Senta Wagner

Herr Klein

Wo Kirschen drauf sind, sind auch Kirschen drin.

So ein wundersames, melancholisches Buch ist das, voller „himmelblauer Geschichten“, in dem die „Wörter und Sätze, ein- und ausgehen“. Die vom Kirschkernspucken erzählen, aber noch mehr von Büchern, also „riesigen Bücherstapeln“, „Bücherstapeln wie Hochhäuser“ in der Bibliothek des Herrn Klein. Dort werkt die Vorleserin: vorlesen, abstauben, sortieren. Die Einsamkeit begreifen und was herausfinden: „Herr Klein versank zwischen den Buchdeckeln …“

Verflixt, und dieser andere Herr Klein, der zunehmend vergisst und seine verschwundene Großmutter in der Stadt der Gondeln entdeckt? Wer ist der?

Eva Maria Gintsberg bringt das zusammen: mit ein bisschen „Hokuspokus“, Fantasie, Leichtfüßigkeit und Amusement. So köstlich, verzaubernd. Und so hübsch anzuschauen.

Rezension von Senta Wagner, 8. November 2021

Buchrezension — 10.2021

Literaturhaus Wien, Redaktion Buchmagazin, Rezensent Marcus Neuert

Herr Klein

[…] Gintsberg findet mit ebenso nur scheinbar leichter Hand ihre Geschichte: in Wahrheit ist diese minutiös und kunstreich konstruiert. […]

Manchmal geschieht es im Leben, dass zu einer lang schon Beruf gewordenen Begabung eine weitere erst zeitversetzt entdeckt wird: die Tiroler Bühnenschauspielerin und Rezitatorin Eva Maria Gintsberg, Jahrgang 1966, hat sich in der vergangenen Dekade im Zusammenhang mit eigenen literarischen Vorleseprogrammen und ihrem späten Studium der Germanistik von 2012-2018 auch zu einer bemerkenswerten Schriftstellerin entwickelt. Dabei ist es für ihr Lesepublikum sehr angenehm, dass ihre Literatur weder von trockenem Akademismus noch von irgendeiner progressiven Schreibschulenhandschrift geprägt wird. Ihr erster Erzählband, „Die Reise“, fand letztes Jahr in der seinerzeit neu gegründeten und vom Innsbrucker Limbus-Verlag vertriebenen „edition himmel“ eine herausgeberische Heimat, und nun erschien jüngst ebendort auch ihr Romandebüt, geschmackvoll präsentiert in dunkelrotem Leineneinband mit Ton-in-Ton-Prägung und grünem Schnitt.

„Herr Klein“ könnte eigentlich auch „Die Herren Klein“ heißen, denn so ganz klar ist es nicht, ob es sich um einen oder zwei Protagonisten handelt. Der eine ist ein verliebter Flaneur, der ein Faible dafür hat, auf Bäume zu klettern und mit Kirschkernen zu spucken, der andere ist ein offenbar wohlhabender schrulliger Bücherwurm im Rollstuhl. Doch träumt nicht vielleicht einer die Rolle des anderen? Und welche Rolle spielt die Ich-Erzählerin, die in der Villa des Bücherwurms als Vorleserin und Bibliothekarin angestellt wird und vom ersten Tag an die surrealen Geschehnisse und Personenkonstellationen einzuordnen versucht, mit denen sie konfrontiert wird? Während der Flaneur gegen eine partielle Demenz kämpft, eine rätselhafte rundliche Venus verehrt und seine früh verstorbene Großmutter vermisst, verschwindet der Bücherwurm immer wieder unangekündigt für längere Zeit von der Bildfläche, hat offenbar eine ungeklärte Verbindung zu der Nachbarin Luise und ihrem Sohn Oskar und einen Goldfisch namens Friedrich, den er im Brustton der Überzeugung als Hasen bezeichnet. Des weiteren treten unter anderen auf: eine unglücklich in den Flaneur verliebte Trafikantin, ein unglücklich in die Trafikantin verliebter Postbote, ein stattlicher Herr im weißen Leinenanzug, der der Großmutter den Hof macht, die verstorbenen Eltern der Ich-Erzählerin, die deren Handlungen ungebeten und kritisch auf russisch kommentieren. Und das ist bei weitem noch nicht das gesamte skurrile Personal dieses Romans.

Der Flaneur Klein reist auf der Suche nach seiner Großmutter in den Süden, landet in Venedig und erlebt dort einen denkwürdigen Zwischenfall nach dem anderen. Parallel dazu versucht die Ich-Erzählerin, das Geheimnis des Bücherwurms Klein zu ergründen. Eines Tages ist Luises Sohn Oskar spurlos verschwunden – was hat es damit nun wieder auf sich?

Es ist mitunter, als würde ein literarischer Polizist dem interessierten Publikum am Ort des Geschehens zurufen, man möge doch bitte weiterlesen, einfach weiterlesen – hier gebe es nichts zu verstehen. Und dieser Aufforderung kommt man eingedenk des locker perlenden Schreibstils jederzeit gerne nach. Auch sind die Motive der Handlung fein miteinander verwoben, begegnen einander und uns Lesenden immer wieder, wenn niemand sie erwartet, so etwa ein immer wieder gelesenes Buch mit blauem Einband, ein ausradiertes und stets neu zu lösendes Kreuzworträtsel oder die Großmutter von Herrn Klein, die mal als alte Frau und mal als kleines Mädchen auftritt. Gintsberg treibt eine wohlstrukturierte und hintergündige Scharade mit ihren Lesenden, lässt die Figuren sich und die Handlung mitunter gar selbst hinterfragen: Konnte man zwischen Geschichten herumspazieren, aus- und eingehen, wie es einem gerade in den Kram passte? (S.120).

Die Story mit all ihren subtilen Wendungen, die sich nur scheinbar nicht zusammenfügen wollen, mäandert durch Zeit und Raum, die erzählerischen Hauptstränge um die vermeintlich beiden Herr Kleins miteinander verknüpfend und am Ende tatsächlich auch ineinander auflösend. Gintsberg findet mit ebenso nur scheinbar leichter Hand ihre Geschichte: in Wahrheit ist diese minutiös und kunstreich konstruiert. Ihr Zauber besteht darin, dass man ihr dies zu keinem Zeitpunkt der Lektüre anmerkt und dass auch am Schluss viele Fragen offenbleiben, viele Fäden so oder auch anders verknüpft worden sein könnten. Von solcher Literatur lässt man sich gern ein wenig foppen, zum Besten halten – denn genau das ist das Gefühl, das sich einstellt, sobald man das Buch zugeklappt hat und auf dem Einband die Gattungsbezeichnung „Roman“ liest, so als könne es sozusagen auch ein „Namor“ oder ein „Ramon“ sein, durch den einfachen Willen der Autorin anagrammatisch umgestellt und uns dennoch verständlich, jedoch ohne einen letztgültigen Sinn, eine einzige unumstößliche Interpretationsmöglichkeit des Geschehens erkennbar werden zu lassen. Eva Maria Gintsberg ist ein märchenhaftes Buch des Surrealen gelungen, welches bis zum Schluss seine Geheimnisse nicht vollkommen preisgibt und wie vielleicht alles wirklich Literarische keine Antworten bereithält, sondern auf die Schönheit der Fragen vertraut.

Rezension von Marcus Neuert, 11. Oktober 2021
https://www.literaturhaus.at/index.php?id=13369

Buchrezension — 10.2021

Tiroler Gegenwartsliteratur 2286 von Helmuth Schönauer

Herr Klein

[…] Eva Maria Gintsberg hat einen Traum vom Lesen aufgeschrieben, niemand erwacht daraus schweißgebadet, niemand ist erschöpft, weil es ein guter Traum ist. In einem verschollenen Märchen von den Bibliothekaren heißt es, dass sie den Herrn Klein täglich träumen. […]

Kann man Alter, Gebrechlichkeit und Geistesverwirrung entkommen, wenn man in ein fiktionales Reich ausweicht? Und hilft für etwaige Mühsal eine imaginierte Pflegekraft, die durch bloßes Zuhören die Welt gut macht?

Eva Maria Gintsberg entwirft mit ihrem Roman Herr Klein eine märchenhafte Welt, der man anmerkt, dass sie im Bedarfsfall auf die Schwerkraft verzichten kann. Hauptfigur ist eine Erzählerin, die einen seltsamen Posten bei einem Herrn Klein antritt. Sie soll zuhören, die Gedanken aufräumen und dem Herrn beistehen, wenn er den Faden verloren hat.

Herr Klein lässt sich kaum betreuen und schon gar nicht einordnen. Auf jeden Fall ist er gespalten in Körper, Geist und Verhalten. Einmal sitzt er im Kirschbaum und spuckt Kerne durch die Gegend, ein andermal sitzt er im Rollstuhl in der Bibliothek. Seine List: Er kann durch die Bücherwand verschwinden.

Die Erzählerin weiß gar nicht, wo beginnen, weil es keine Chronologie gibt in jedem Reich, das aus Trance, Suggestion und Nostalgie besteht. Auf der sichtbaren Fläche könnte man von einer Zugehfrau sprechen, die regelmäßig den leicht verwirrten Helden betreut und ihm seinen Lebenslauf und vor allem seine Belesenheit in kleinen Portionen entlockt.

Auf der Fläche der Phantasie breitet sich hingegen eine immense Bücherwelt aus, die vielleicht die wahre Welt des Herrn Klein bedeutet. Womöglich ist auch er nur etwas Angelesenes wie alle sonstigen Besonderheiten, etwa ein Goldfisch, der noch nichts von seiner eigenen Gattung gehört hat, weil er immer schon als körperloser Begriff gelebt hat.

Während der Rollstuhl fahrende Held offensichtlich jenem Reich des Bibliothekskosmos entsprungen ist, wie wir ihn meisterlich von Jorge Luis Borges vorgestellt haben, ist der Kirschen spuckende Teil ein Repräsentant unverwüstlicher Kindheit und entspricht einer Alice im Wunderland. Wer weiß, ob die Kirschkerne nicht Halluzinogene sind, die man in besondere Supermärkten kaufen kann.

Vom Baum der Erkenntnis herab erzählt Herr Klein von seinen Freunden aus Kindertagen, einer hat Oskar geheißen, seine Mutter jedenfalls erzählt von einem Oskar, der ihr Kind gewesen sein soll. Andererseits ist dieser Oskar womöglich aber nur eine angelesene Figur, die aus der Blechtrommel entsprungen ist.

Regelmäßig wird das Ratespiel um Identitäten unterbrochen von der Magie des Lesens. (Als Bibliothekar erlebt man alle paar Kapitel einen beruflichen Orgasmus, wenn die Welt der Bücher aufbricht und Gelassenheit und Verunsicherung in einem verströmt.)

Ich war verunsichert, zweifelte plötzlich. War ich blind oder blöd? Vielleicht war die Bibliothek, das ganze Haus nur eine Kulisse. Die Bücher Dekoration. Die letzte Vorstellung eines in die Jahre gekommenen Stückes. Und Herr Klein spielte die Rolle seines Lebens. (57)

Wenn Leute lange genug leben, wissen sie selbst nicht mehr, was sie erträumt oder erlebt haben, zumal das jüngere Publikum diese Geschichten nicht überprüfen kann. Die Erzählerin übernimmt mit der Zeit die Marotten des liebenswürdigen Phantoms, dass halb Stoff-los, halb als Stoff durch die Geschichten braust.

An manchen Tagen genügt es, das Wetter aufzuschlagen vor der Tür, und schon nimmt eine phantastische Handlung ihren Lauf. Besonders stark wirken diese Erlebnis-Pastillen bei Vollmond, plötzlich beginnt es zu rumoren wie in einem Hotel für Gespenster, die Schaukeln im Garten beginnen zu schwingen, gleichzeitig schwappt Wasser durch die Gassen, als durchfluteten sie eine Stadt aus Moder. (117)

Seiten später sind noch immer die Geschichten zu Gange, aber der Bücherstapel, aus dem sie strömen, wird zusehends wackeliger, und dann kracht er zusammen. Die letzten Geschichten flattern auf als verschreckter Story-Schwarm. Bücher erzählen auch dann noch weiter, wenn sie zu Boden gefallen sind.

Und draußen steht der Baum unbeirrt weiter, obwohl niemand mehr Kirschen daraus hervor spuckt. Niemand weiß, wie alt der Baum ist, niemand kann das Alter von Herrn Klein abschätzen. ‒ Die Erzählerin setzt sich in den Fauteuil des Herrn Klein und übernimmt seine Identität. 

Eva Maria Gintsberg hat einen Traum vom Lesen aufgeschrieben, niemand erwacht daraus schweißgebadet, niemand ist erschöpft, weil es ein guter Traum ist. In einem verschollenen Märchen von den Bibliothekaren heißt es, dass sie den Herrn Klein täglich träumen.

von Helmuth Schönauer (BIP – Buch in Pension)Oktober 2021

Buchrezension — 01.2021

von Wolfgang Huber-Lang, Jänner 2021

Buchrezension — 11.2020

Der Hotlistblog – Unabhängige Bücher – Unabhängige Verlag – von Senta Wagner

Die Reise

[…] Die Sprache ist bildhaft, resolut, plastisch, assoziativ, mit bemerkenswertem Gespür für Rhythmus. […]

Es tut gut, in den Himmel zu schauen. Dort erzählen Wolken, Gestirne und Farben ihre ganz eigenen Geschichten, fernab der unseren. Von dort kommen Schnee und Regen.

„ich sage der himmel ist vielleicht k/ein baumwollmousseline.“ Sagt Judith Nika Pfeifer in ihrem Gedicht himmel malen. Von dort kommt auch, wie es scheint, ein Verlag, der sich derart inspiriert edition himmel nennt und in diesem unheilvollen Jahr in Innsbruck ins Leben gerufen wurde. Ein gutes Zeichen. Dort besteht auch eine Nähe zum Limbus Verlag, der den Vertrieb für die kleine Edition übernimmt. Mit den Worten der beiden Verlagsgründer Kurt Höretzeder und Thomas Schrott wird das „Programm langsam wachsen, sehr langsam“. Es entspringe ihren Leidenschaften für das gedruckte Buch, die sich nicht nur einem lebens­langen Lesen verdankten, sondern auch der mittler­weile Jahrzehnte dauernden Arbeit als Buch­gestalter. Und die kann sich sehen lassen! Mehr noch, sie ist rundum fühlbar.

Mit BÄNG #001 wartet der heranwachsende Buchhimmel mit seiner ersten Publikation auf, in exquisiter, vollendeter Ausstaffierung und Typografie. Hinter dem lautmalerisch polternden Bäng wird es ruhig. Mit dem Reihentitel steckt eine ebenso fein gearbeitete wie beunruhigend-dunkle Erzählung auf knappstem Raum. Die Reise ist das Debüt der Tirolerin Künstlerin Eva Maria Gintsberg, die Schauspielerin, Vorleserin und Schriftstellerin ist. BÄNG #002 gibt es laut Vorschau im Herbst 2021.

Aller Reise Anfang ist der Grund, weshalb sie überhaupt angetreten wird, egal wie abrupt. Eine Frau klammert sich frierend am frühen Morgen an ihren Koffer, besteigt mit „Ungewissheiten“ und „Unausgesprochenem“ ihren Zug. Sie begibt sich auf die Spur ihres Vaters, der tot ist. Im letzten Krieg war er, danach herrschte darüber Schweigen in der kleinen Mutter-Vater-Kind-Familie. Lapidar heißt es im Text: „Er in seiner Welt.“ Das Schweigen dieser Generation ist bekannt und das Schweigenbrechen oft genug Schreibimpuls nachwachsender Generationen. Dass es in Kriegszeiten eine andere Frau, eine Geliebte gegeben haben soll, wie ein verräterischer Brief und ein Foto dokumentieren, wirft das Erzählerinnen-Ich aus der Starre der erlebten Sprachlosigkeit. Gerne hätte sie mehr vom Vater gewusst, den sie mit „du“ anspricht. Vielleicht weiß sein alter Kriegskamerad mehr, zu dem sie unterwegs ist.

Konkrete Orte, also ein Woher und Wohin, spielen keine Rolle, das Unterwegssein hat seine eigenen Raum-Zeit-Koordinaten. Gintsberg geht es in ihrem Text, unterschiedlich typografisch markiert, um Wahrnehmungspartikel („Ich sehe etwas, das du nicht siehst und das ist.“), Erinnertes, Reflexionen, traumartige Sequenzen: der Blick auf dem Zugfenster, der Verzehr von Schokolade, vorgestellte Kriegsszenarien. Alles ist aufs Engste miteinander verwoben. Die Sprache ist bildhaft, resolut, plastisch, assoziativ, mit bemerkenswertem Gespür für Rhythmus. Nur ein paar Kommata mehr hätten sein dürfen.

Die Reisende ist nun nicht die Einzige, die mit ihren Geistern oder Schatten im Zug unterwegs ist. Wie entlang eines Schienennetzes entwirft Gintsberg die Lebensdramen als Kürzeststränge gleich mehrerer Figuren, denen die Erzählerin direkt oder indirekt begegnet: die des älteren Abteilgenossen, des kleinen rothaarigen Mädchens und ihrer Tante bzw. ihrer unglücklichen Mutter sowie der alten Frieda. Sie entspinnt in vier Episoden den einen Strang aus dem anderen, lässt diese überlappen, spiegelt sie gegeneinander, zeigt Ähnlichkeiten auf. Das ist äußerst reizvoll gemacht und hällt einen gebannt. Es mag so sein, dass alles miteinander verbunden ist, auf gerade einmal siebzig Seiten vedichtet kommt es einem auch verwegen vor.

von Senta Wagner, November 2020

Buchrezension — 10.2020

bn.bibliotheksnachrichten von Petra Fosen-Schlichtinger

Die Reise

Eine Erzählung über Schicksale, seelischen Schmerz und Beziehungsnetze, die Menschen verbinden. (DR) Menschen begegnen einander im Zug. Zufall oder Fügung führen sie zueinander. Ohne ihr Wissen sind ihre Leben miteinander verbunden. Eva Maria Gintsberg macht die LeserInnen ihrer Erzählung zu Mitreisenden, die schon früh erahnen, dass die Ankunft am Zielort nur eine Zwischenstation auf der langen Reise der Selbstfindung sein kann. Im Zentrum des schmalen Buches steht eine junge Frau. Sie hat sich aufgemacht, um die Nebel über ihrer Kindheit zu lichten. Während der Bahnfahrt trifft sie auf einen alten Mann und ein kleines Mädchen. Alle drei sind in schwierigen Situationen. Sie sind mit dem Verlust geliebter Menschen konfrontiert und leb(t)en in albtraumhaften Familienkonstellationen. Das Wissen darum ist das Privileg der LeserInnen. Eva Maria Gintsberg ist mit „Die Reise“ eine Erzählung von unglaublich hoher sprachlicher Dichte gelungen. Ein Text, der sich durch seine klare Sicht auf das Leben und durch eine einfühlsame Schilderung von Einsamkeit und Verlorenheit auszeichnet.

von Petra Fosen-Schlichtinger, Oktober 2020

Buchrezension – 09.2020

Literaturhaus Wien, Sabine Schuster

Die Reise

Die Tiroler Schauspielerin Eva Maria Gintsberg legt mit „Die Reise“ ihr literarisches Debüt vor, das mehrere Frauenschicksale zu einem dichten, fast surreal anmutenden Text verbindet. Eine Zugreise, eine Handvoll Figuren, verborgene Zusammenhänge und der kühle Atem der „großen“ Geschichte sind die Zutaten ihrer Erzählung, in der sie auf schlanken 70 Seiten durchaus schwerwiegende Themen verhandelt: Es geht um Schuld, Missbrauch, Todesangst und um das Schweigen, insbesondere der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Dieses Schweigen aufzubrechen und in Worte zu fassen sei ein Ziel ihres Schreibens, so die Autorin in einem Interwiew mit Bernd Schuchter, in dessen Innsbrucker Limbus Verlag die neu gegründete edition himmel beheimatet ist.

Ein Familiengeheimnis treibt die namenlose Ich-Erzählerin der ersten Geschichte frühmorgens auf einen kalten Bahnsteig. Sie ist überstürzt aufgebrochen, um nach einer schlaflosen Nacht eine Frage zu klären: Was bedeuten die Buchstaben „I.L.F.“ auf dem Foto einer fremden Frau, das sie am Vortag in der Korrespondenz ihres verstorbenen Vaters fand? War da eine andere Frau, war da etwas Ungeheures, das nie ausgesprochen werden durfte? Franz, ein Kamerad ihres Vaters im Feld, könnte das Geheimnis der drei Buchstaben kennen. Zu ihm ist sie nun unterwegs. „Das Unausgesprochene flüstert“ und fremde Kriegsszenen schieben sich in die Wahrnehmung der Reisenden, als sie aus dem Zugfenster schaut, in Nahaufnahme ein junger Soldat, der vor ihren Augen stirbt. Daneben Erinnerungen an die Kindheit, an Waldspaziergänge mit dem Vater, ihre Hand in seiner, Schattenlichter und sich bewegende Sträucher, plötzliche Panik – ein Flashback in den Krieg, über das sie nie miteinander sprechen werden. Auch die Mutter rückt ins Bild, fremd, immer im Streit mit Vater, in der Erinnerung assoziiert mit dumpfen Schlägen auf Holz – „überflüssige kleine Katzen, die sie mit Selbstverständlichkeit gegen Holzstöße schleuderte“ (S. 18). Ein Vogel klatscht ans Zugfenster, Innenwelt und Außenwelt greifen wie ein Uhrwerk ineinander.
Ein freundlicher alter Herr hat zuvor den roten Koffer der Erzählerin in die Ablage gehoben. Nun bietet er Bitterschokolade und Schnaps aus seinem Flachmann an – auch Vater hatte immer einen Flachmann bei sich. Ein rothaariges Mädchen läuft durch den Zug und verkündet mit fröhlicher Stimme, ihr Vater sei tot. Wie Alice in den berühmten Kaninchenbau rutscht das Mädchen herein ins Zugabteil, legt der Erzählerin einen Kaugummi in den Schoß, bringt später einen Strauß Wiesenblumen, drängt schließlich mit kindlicher Vehemenz in ihr Leben: „Kannst du mich mitnehmen?“ (S. 22)
Der alte Herr ist unterwegs zu seiner Tochter, die in einem Krankenhaus im Koma liegt. Er bittet die Erzählerin, ihn dorthin zu begleiten.
Was erwarten Sie von mir, wenn ich mitkomme? Er lächelt. Nichts, gar nichts. Ich möchte nur, dass Sie mitkommen und meine Tochter sehen. Wie sie daliegt, scheinbar friedlich mit sich und einem Stück der Welt.“ (S. 20)

Im Handumdrehen wird die Zugfahrt zu einer inneren Bewegung, die ganz andere Wege einschlägt als geplant, am Ende ist der Erzählerin der eigentliche Grund ihrer Reise abhanden gekommen, und das im besten Sinne: „Er hat sich bereits aufgelöst in der versinkenden Weichheit meines Bettes, in den immer wiederkehrenden Träumen, die ich nicht erklären kann, in dem ausgefransten Teppich, über den ich nachts jedes Mal stolpere, wenn ich in der Küche ein Glas Wasser trinke. (…) Aufgelöst in meiner Kindheit. Aufgelöst, hier und jetzt.“ (S. 27)
Auf der Heimfahrt schläft sie friedlich ein, eine alte Frau hat sich fast unbemerkt zu ihr ins Abteil gesetzt.

Die zweite Erzählung im Band, „Wenn Bäume sprechen“, stellt uns die elfjährige Agnes vor, die aus prekären Familienverhältnissen in die Natur flüchtet und ihre freie Zeit auf Bäumen verbringt. In kurzen, hell aus dem Fließtext herausgehobenen Absätzen spricht sie selbst, während die Geschichte ihrer Familie auktorial erzählt wird. „Eiszeit“, „Vaterzorn“, „Bittere Scham“, „Sprachlosigkeit“, „Albtraum“ lauten die kleinen Zwischentitel dieser Geschichte, die von Agnes, ihrem zornigen alkoholkranken Vater, ihrer depressiven Mutter Rosa und ihrer Tante Sanna, die den Haushalt führt, berichtet. Das Mädchen ist stark und wird so bald wie möglich von Zuhause weggehen. Inzwischen schafft sie sich eine friedliche Gegenwelt im Wald. Mit ihren roten Haaren leuchtet sie aus dem Familiensumpf heraus wie ein Fabelwesen und fühlt sich bei den Füchsen wohler als bei den Menschen: „Ich habe rote Haare. – Wenn es dämmrig wird, blitzen die Augen der Füchse, wie bei den Katzen. Das gefällt mir.“ (S. 32)
Eines Tages eskaliert die Situation und Agnes ist plötzlich mit ihrer Tante Sanna im Zug unterwegs. Wohin weiß sie nicht, seit dem Tod ihres Vaters geht alles zu schnell.
Hier treffen sich die beiden Erzählstränge und wir erleben die Reise gespannt nochmals aus der Perspektive von Agnes, deren Blick erst am roten Koffer, dann an den „netten Augen“ der Frau aus der ersten Geschichte hängenbleibt.

In der dritten Geschichte schlüpfen wir in die Perspektive von Anges‘ Mutter Rosa, die nach dem Tod ihres Mannes allein im Haus der Familie zurückbleibt und erstmals seit Jahren ihr Zimmer wieder verlässt. Ihre Tochter hat sie mit Sanna weggeschickt. Eine kleine Holzkiste mit persönlichen Dingen – darunter ein Tagebuch und ein verblasstes Foto mit einer aufgekritzelten Jahreszahl – leiten ihre Erinnerungen. Wird sie ihr Kind wiedersehen? Immerhin lebt sie und wagt sich irgendwann hinaus in den Garten, „saugt das Licht auf wie ein vertrockneter Schwamm“. (S. 63)

Wie sich in der vierten Erzählung, „Die Erinnerung“, rätselhafte Verbindungen zu einem Kreis runden, das wird hier nicht verraten. Obwohl es der Spannung keinen Abbruch täte. Denn die Texte dieser Autorin haben ganz anderes zu bieten als Suspense, sie leben von sinnlicher Wahrnehmung, von Farben, Gerüchen, flüchtigen Assoziationen und nicht zuletzt vom interessierten Blick ins Innerste ihrer Charaktere, deren Denken und Fühlen die Autorin authentisch und in starken Bildern zur Sprache bringt. Erstaunlich ist, dass in der Dunkelheit dieser Geschichten auch Ruhe liegt, Versöhnung, Weltvertrauen.
„Und Blumen will sie kaufen, aber das wird sich schon finden“, heißt es über die fast blinde Frieda auf ihrem ungewissen Weg zum Grab ihrer Jugendliebe. Soeben irrte sie noch in der Dämmerung über die Gleise, nun sitzt sie im Zug. Alles wird sich finden. Diese Gelassenheit scheint nicht in unsere durchorganisierte Gegenwart zu passen, sie wirkt jedoch als Grundton der Erzählung wohltuend nach.

Zeitlos nobel ist auch die grafische Gestaltung der „Reise“, das Baum-Motiv aus der Agnes-Erzählung findet sich als Prägung auf dem gelben Leineneinband wieder, dann noch einmal vorne im Buch, gedruckt in zartem Grau, passend zur Schrift. Vorsatzblatt und Schnitt in mattem Blau – vielleicht dem Himmel geschuldet. Wie auch immer, der erste Stern am Firmament dieser Edition funkelt schön.

Sabine Schuster, 07. 09. 2020

Buchrezension – 05.2020

Tiroler Gegenwartsliteratur 2233

Die Reise

Auf der wahrlich großen Lebensreise verlieren die Reisenden allmählich das Ziel, am Schluss wissen sie gar nicht mehr, dass sie auf Reisen sind. Eva Maria Gintsberg stellt in ihrer Erzählung um einen jähen Aufbruch ein paar Protagonisten am Bahnsteig zusammen und lässt sie im Morgengrauen losfahren. Die Ich-Erzählerin, die das Reisen nicht gewöhnt ist, packt eines Tages einen Koffer und begibt sich in der Früh zum Bahnhof, sie sticht aus der Menge der Wartenden hervor, vielleicht, weil sie ein besonderes Ziel hat. Sie will nämlich in die Vergangenheit ihres Vaters reisen, der während des Krieges eine Affäre gehabt hat. Nach seinem Tod sind nur ein paar rätselhafte Buchstaben übriggeblieben, die darauf hindeuten, dass es irgendwo eine Geliebte mit dieser Signatur gibt. Im Zug trifft die Erzählerin auf einen älteren Herren, der ein Fläschchen gegen den Alltag dabei hat und auf dem Weg zu seiner Tochter ist, die nach einem Suizidversuch apathisch in einem Sanatorium liegt. Zwischendurch läuft ein rothaariges Mädchen durch die Garnitur und bläst ihren Kaugummi auf zu Blasen, die jenem Comics entsprechen, den sie herumreicht. Bald einmal stellt die Heldin fest: Der eigentliche Grund meiner Reise ist mir abhanden gekommen. (27)

In einer zweiten Erzählschicht ist vom Familiensumpf die Rede, in den alle Protagonistinnen verstrickt sind. Das Mädchen Agnes hat den alkoholischen Vater an die Tante verloren, die eigentlich auf es aufpassen sollte. Sie verlässt eine depressive Mutter und hockt mit der Ersatzmutter im Zug, sie kennt sich nicht mehr aus, wer wofür zuständig ist. Aus der Eigenperspektive schaut die depressive Rosa auf sich selbst hinunter, der Herrgott hat sie verlassen und alles ist schief gegangen. In einem eruptiven Anfall liegt sie unter einem Apfelbaum und reißt Grasbüschel aus. Ihre Tochter ist für immer weggefahren. Am hinteren Ende der Erzählung hockt die stille Frieda ihren Lebensabend herunter. Ein bisschen Erinnerung an die Liebschaft im Krieg gibt es noch und dann das Beobachten eines älteren Herrn, der wohltuend verlässlich seine kranke Tochter besucht. Die Reise ist kunstvoll aus drei Strängen zusammengeflochten, an der Oberfläche sind es Reisebewegungen wie sie rund um eine Zugfahrt unscheinbar abgewickelt werden, etwas tiefer liegen die familiären Verstrickungen, aus denen die Heldinnen selbst mit größtem Bemühen nicht hinausfinden, und als dritte Ebene könnte man das Reisen in der Sprache selbst auffassen. Vier Kapitel sind nämlich nicht nur vier Heldinnen zugeordnet, sondern auch vier Erzählmethoden. Das Unausgesprochene flüstert. (3) / Wenn Bäume sprechen. (29) / Das Schweigen legt eine Pause ein. (55) / Die Erinnerung (65).

Die Geschichten liegen selten auf einer Ebene, sodass man sie mit einer Handbewegung zusammenwischen könnte, sondern sie sind schroff in einander verkeilt, verschwinden im Unterbewusstsein und tauchen in Rhizom-Manier an völlig anderer Stelle wieder auf. Wer einmal einen Erinnerungsprozess angestoßen hat, muss damit rechnen, dass dieser sich verselbständigt. Dabei überlappen sich die biographischen Abschnitte, mitten in die Kindheit kann eine Altersweisheit eindringen, im Arbeitssaft stehend bricht plötzlich der Boden weg, und alte Zeichen lassen späte Triebe ausbrechen und geraten in den Glanz einer neuen Bedeutung. Alle sind heftiger unterwegs, als sie es selbst ahnen. Eva Maria Gintsbergs Reise ist eine subtile Auseinandersetzung mit den Schatten einer Familiengeschichte. Darin werden die Verwundungen neu angeritzt, damit sie durch Erzählen neu verbunden werden können. Vielleicht ermöglicht erst dieses Aufsuchen versunkener Erwartungen eine Heilung. Die Erzählung nimmt letztlich viel Druck aus dem angestauten Zerwürfnissen der Heldinnen. Wie bei großen Reisen üblich, ist sie nie zu Ende.

von Helmuth Schönauer, 28/05/20

Theater – 1991

John Hopkins/Peter Zadek: „Verlorene Zeit“

Sexualität ist Trumpf

In der neuesten Produktion des Innsbrucker Treibhauses im „Theater im Turm“ geht es um das Zwischenmenschliche schlechthin: „Verlorene Zeit“ von John Hopkins, in der Bearbeitung von Peter Zadek, inszeniert von Dorothee Steinbauer und Wolfgang Dobrowsy. Drei Stunden dichtestes Theater, getragen von gegenseitiger Zerstörung der handelnden Protagonisten. […] Der Abend gehört den beiden großartig spielenden Damen. Dorothee Steinbauer variiert alle Gefühlswelten distanziert und intensiv. Eva Maria Gintsbergs Frauendarstellung geht unter die Haut – alle Gefühlsskalen werden ausgelotet. […] von wwl

Theater – 1998

Das Lied der Heimat

Thomas Hürlimann, durfte mit der auf acht Szenen erweiterten und vor allem wegen Otto Gründmandl „aufgefetteten“ sogenannten Exportversion seines in der Schweiz uraufgeführten „Das Lied der Heimat“ die neue Saison in den Kammerspielen eröffnen. […] Für mich am treffensten und amünsantesten mit fast Woody-Allen-Dialogen waren die Szenen aus der Satellitenstadt mit ihrer austauschbaren Architektur und austauschbaren Bewohnern, wobei Eva Maria Gintsberg und Günther Lieder ein Kabinettstückchen boten. […] von Friedel Berger

Theater – 2003

Augenspieltheater Hall ist Anziehungspunkt für Freunde anspruchsvoller Literatur

Komplexes zieht die Massen an

René Zisterer, Leiter des Augenspieltheaters in Hall, hat Mut zu gewagten Projekten. Auch die aktuelle Produktion „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist eine Herausforderung. Das Augenspieltheater meistert sie mit Bravour. Entsprechend groß ist der Publikumsandrang. […] Die Produktion zeichnet sich aus durch atmosphärische Dichte, schauspielerische Glanzleistungen und eine Inszenzierung (Zisterer), die die Ebenen des Seins zwischen Ist-Zustand und Möglichkeitsform gekonnt auslotet. […] von C. Thurner

Theater – 2003

Einmal Musik hin und zurück

Eine überraschende Collage von „Mann ohne Eigenschaften“

[…] René Zisterer, Intendant u. Regisseur in einer Person, inszenierte für ein ebenso risikobereites Publikum einen spannenden Streifzug durch das intellektuelle Bergwerk von Musils wichtigstem Oevre […]. Im Detail alle Namen u. Vorzüge der einzelnen Akteure zu nennen, würde den vorhandenen Rahmen sprengen, so seien hierfür stellvertretend einige unübersehbare Protagonisten erwähnt. Die Figur Ulrich […] fand in Franz Tscherne einen hoch überzeugenden Darsteller. […] Ihm ebenbürtig Eva Maria Gintsberg als nervöse und leidenschaftliche Clarisse. […] von Peter Teyml

Theater – 2007

Das Stück „Kleine Eheverbrechen“ feierte im Kellertheater Premiere

Der Absturz vom siebten Himmel in die Ehehölle

Was bleibt von der Liebe, wenn sich die Gewohnheit eingeschlichen hat? Das Kellerthater begibt sich auf eine Spurensuche zwischen Schein und Sein. […] Das Stück berührt, verführt mit seinem bitterbösen Humor zum Lachen und stimmt auch nachdenklich. […] Eva Maria Gintsberg wechselt hervorragend zwischen der treusorgenden Ehefrau und dem durchtriebenen Racheengel, Walter Ludwig überzeugt als scheinbar Orientierungsloser, der seine Frau in Wirklichkeit geschickt manipuliert – eine gelungene Aufführung. von pla

Theater – 2016

Ein wunderbarer Abend für Selma Merbaum – eine Premiere zum Nachdenken

[…] Eva Maria Gintsberg erstellte das Konhzept und liest als versierte Schauspielerin und „Vorleserin“ die Texte der Autorin. Stefan Manges mischt sich mit wortbehutsamen Akkordeonklängen dazu. Wer sich also gern verzaubern lassen möchte von einem musikalisch-literarischen Gesamtkunstwerk und Texten einer außergewöhnlichen Frau, sollte die nächsten geplanten Termine nicht verpassen. […] von Siljarosa Schletterer